PERRY-RHODAN-Kommentar 2171


DIE GEHEIMLOGE DER TONKIHN


Etwa 14.000 Erdjahre nach der Thoregon-Gründung hat die Thatrix-Zivilisation VAIAS ihren Höhepunkt erreicht. Sternenfenster-Verbindungen existieren von Tradom aus nach Terenga (Sektor Teren), Irsatur (Sektor Satur), Shath (Sektor Urnumar) und Felgar (Sektor Aglun), von Terenga aus wiederum nach Faenon (Sektor Hilval) und Khidur (Sektor Forodel). Tradom, Terelanya, Terenga und Irsatur bilden hierbei bekanntlich die HCG-87-Gruppe in rund 388 Millionen Lichtjahren Entfernung von der Milchstraße (siehe PR-Kommentar 2107).

Shath entspricht der terranischen Katalogbezeichnung IC 1337, eine Spiralgalaxie vom Typ SAB mit einem Durchmesser von 140.000 Lichtjahren, 29,6 Millionen Lichtjahre von Tradom entfernt. Felgar erreicht einen Durchmesser von 150.000 Lichtjahren in 29,4 Millionen Lichtjahren Distanz von Tradom, ist vom Typ SB und auf Terra als IC 1339 bekannt. Faenon kennen die Terraner als ESO 596-G021, Typ Sb, Durchmesser 118.000 Lichtjahre, 45,1 Millionen Lichtjahre von Tradam – und Khidur (also ESO 597-G006) ist vom Typ SA, mit 200.000 Lichtjahren Durchmesser 31,5 Millionen Lichtjahre von Tradom entfernt.

Aul Eimanx schließlich – ESO 596-G040, rund 34,7 Millionen Lichtjahre von Tradom entfernt, eine Spiralgalaxie vom Typ SAB mit einem Durchmesser von 128.000 Lichtjahren – war vor dem Abschluss des »Vertrags von Tradom« das Aufmarschgebiet der Kosmokraten, zählt inzwischen »locker« zum »VAIA-Thoregon« und soll von VAIAS Verkünder hinsichtlich weiterer Kosmokraten-Aktivitäten beobachtet werden; nicht zuletzt, weil die Superintelligenz MYR wenige Jahrtausende nach VAIA ebenfalls ein Thoregon errichtet hat.

Überall unterhalten die »lokalen« Regierungen und Herrscher beste freundschaftliche Beziehungen zu VAIA und ihrem Boten. Die Völker der Thatrix-Zivilisation verfügen durch ihre Sternenfenster über Handels- und Kulturbeziehungen zu sieben anderen Galaxien. Das Reich der Güte besteht allerdings keineswegs nur aus Güte und Glück allein, sondern Reibereien entstehen immer wieder an allen Ecken und Enden. Oder, wie Ijotha Hyndalin es formulierte:

... blühen und gedeihen solche mehr oder weniger geheimen Gesellschaften. Mit wunderbar dummen Namen: der Klub der Halbtoten Romanautoren, die Goldenen Südfrüchte, die Inquisition der Vernunft, die Freunde der Frei Flottierenden Aufmerksamkeit ... Das ist ganz normal. Aber wenn diese notorischen Nörgler auch hinter unseren Rücken Gift und Galle spucken – sie würden die Thatrix als Ganzes nie ernsthaft in Frage stellen. Erstens, weil es ihnen viel zu gut geht darin. Und zweitens, weil sie sehr genau wissen, dass jegliche Form der Auflehnung keinerlei Chance auf dauerhaften Erfolg hat. (PR 2170)

Eine dieser Geheimlogen – die Inquisition der Vernunft –, der im Gegensatz zu den notorischen Nörglern durchaus Gewicht beizumessen ist, wurde von den Tonkihn ins Leben gerufen. Unbestätigten Gerüchten zufolge stammen diese Wesen wie auch das Lichtvolk von jenem Volk ab, aus dessen Vergeistigung VAIA hervorging. Extrem fähig, sind sie aber anders als die Vaianischen Ingenieure eher mit »Sozialkompetenzen« ausgestattet, mit suggestiven und empathischen Gaben sowie einem Hang zu ungehemmter Grausamkeit, den sie jedoch in der Thatrix-Zivilisation nicht ausleben können. Statt dessen halten sie sich die von den Genetikern von Kaaf gezüchteten Chaquitte, die allein dem Ausleben von Aggressionen dienen – extrem widerstandsfähige, bernhardinergroße Hundewesen ohne eigene Aggressivität, aber mit serviler Leidensfähigkeit.

Die Emotio-Händler sind nirgendwo in Tradom wirklich beliebt, über ihre Geschäfte weiß man wenig, nur, dass sie stets treue Mitglieder der Thatrix-Zivilisation waren. Bei wirklich wichtigen emotionalen Problemen, sei es die Trauer um einen geliebten Verstorbenen, den Zorn über eine verpasste Gelegenheit, die Angst vor dem eigenen Tod und dergleichen, kann ein Tonkihn helfen: Gegen Kredits erzeugt der Suggestor einen posthypnotischen Block, der exakt den Anforderungen des Kunden entspricht und im Allgemeinen über Jahre hinweg hält.

Die Geheimlogen-Bezeichnung »Inquisition der Vernunft«, zusammengesetzt aus Inquisition – lateinisch: »(gerichtliche) Untersuchung« (im engeren Sinne das Gericht der katholischen Kirche gegen Ketzer, im übertragenen Sinne ein »strenges, grausames Verhör«) – und Vernunft, ergibt sich bei genauerer Betrachtung recht schlüssig aus der Kombination der Fähigkeiten und dem Hang zur Grausamkeit: Die empathische Fähigkeit, die Probleme anderer Wesen zu erkennen und durch Suggestion per posthypnotischem Block zu »beseitigen«, kommt dem perfekt entgegen.

Quasi »inquisitorisch« werden die Emotionen und die davon beeinflusste Vernunft anderer erforscht und sich durchaus an ihnen geweidet, während die nachfolgende Beeinflussung in jeder Hinsicht einen tief gehenden Eingriff darstellt, der nur mit einem Gutteil Härte und Grausamkeit durchgeführt werden kann. Dass sich für die Klienten unter dem Strich eine Lösung ihres Problems ergibt, ist für die Emotio-Händler hierbei eher von sekundärer Bedeutung.

Im übertragenen Sinne kann das Blatt 43 aus der Serie »Caprichos« von Francisco de Goya (1746 bis 1828) herangezogen werden, das den Titel Der Schlaf (Traum) der Vernunft gebiert Ungeheuer trägt – während Goya selbst als Kommentar schrieb: Die Phantasie, verlassen von der Vernunft, erzeugt unmögliche Ungeheuer; vereint mit ihr ist sie die Mutter der Künste und Ursprung der Wunder. Oder, anders formuliert: Die Vernunft, die sich etwas »ausdenkt«, produziert »Monster« – gemäß Wilhelm Hennis zu Goyas Zeichnungen: Der Traum einer universellen, Projekte schmiedenden Vernunft gebiert Ungeheuer.

Treffender könnte man es wohl kaum ausdrücken, wenn man bedenkt, was aus der Revolte gegen die Thatrix-Zivilisation hervorgeht: das fürchterliche Reich Tradom!

Rainer Castor