PERRY-RHODAN-Kommentar 2016


FREMDE FREUNDE


Die SOL kämpft verzweifelt gegen die Mundänen und hat bei realistischer Betrachtung selbst unter Ausnutzung aller taktischer Finessen kaum eine Chance. Das Hantelschiff hält der Übermacht vor allem deshalb stand, weil die Janusköpfe ihr Vorgehen geändert haben. Nicht die komplette Vernichtung ist (zunächst ...) das Ziel, sondern offensichtlich wird eine Eroberung angestrebt – was angesichts der begehrenswerten Materialeigenschaften des Carits nicht verwundern darf.

Daß es sich hierbei um einen überaus wirkungsvollen Schutz handelt, hat der Kampf gegen die Kosmische Fabrik MATERIA ebenso bewiesen wie die bisherigen Geschehnisse in Segafrendo. Ohne Carit wäre die SOL zweifellos schon Geschichte.

Dennoch tut die Schiffsführung rings um Atlan und Tekener gut daran, darin keinen Deus ex machina zu sehen. Sicher, die Belastbarkeit dieses dank mikroskopischer Mengen von Ultimatem Stoff erzeugten Materials ist für herkömmliche Begriffe extrem. Schließlich kann Carit bis zu einem unbekannten Grad Energie aufnehmen, nicht meßbar speichern und diese bei Erreichen eines Sättigungswertes in den Hyperraum abstrahlen.

Aber genau hier liegt der Knackpunkt: Wann ist der »unbekannte Grad« überschritten? Läßt sich dieses beliebig oft wiederholen? Kommt es vielleicht zur »Materialermüdung«? Erschöpft sich die Wirkung irgendwann, vor allen nach vielfacher Extrembelastung? Kann es sein, daß das Carit bei einem Grenzwert einfach verschwindet, in den Hyperraum verpufft?

Schon diese Fragen, besser die fehlenden Antworten, können einem den Schweiß auf die Stirn treiben. Viel gravierender ist noch ein ganz anderer Aspekt: Die Carit-Hülle ist eines – was ganz anderes aber ist das Innere der SOL, die normalen Deckstrukturen, Aggregate, nicht zuletzt die Besatzung. Hier haben wir es eben nicht mit Carit zu tun, und schon die indirekte Belastung wirkt sich mitunter sehr gravierend aus.

Würde beispielsweise die SOL einer Beschleunigung ausgesetzt, deren Wert die Sicherheitstolerenz der Andruckabsorber übersteigt, nutzt die beste Carit-Hülle nichts – denn selbst wenn das Schiff nicht zur Flunder flach gedrückt wird, für die Besatzung träfe das sehr wohl zu! Vergleichbares muß auch für sonstige Wirkungen gesagt werden, seien es rein mechanische Erschütterungen, Vibrationen oder irgendwelche Sekundärstrahlungen, die beispielsweise infolge von Resonanzeffekten entstehen können: In jeden Fall ist die Besatzung das schwächste Glied der Kette, und genau das muß zur Vorsicht mahnen. »Von außen heil, innen aber ein Berg Leichen« ist alles andere als eine berauschende Vorstellung. Somit relativiert sich der Carit-Schutz recht deutlich!

Die Ausstrahlung des Notrufes ist also in mehrfacher Hinsicht angebracht, auch wenn die Hoffnung auf Hilfe nicht sonderlich groß erscheinen mag. Nach tausend Jahren Krieg gegen die Mundänen stehen die Völker Segafrendos mit dem Rücken zur Wand, gelinde gesagt.

Maßgebliches Volk der Galaktischen Krone ist jenes, das uns bislang nur als das Blaue Blond geläufig war, oder als »Slattys«, »Püppchen«, wie es die Mundänen nennen. Der Begriff Galaktische Krone leitet sich hierbei nicht von einem monarchischen Herrschaftssymbol ab, sondern von »Baumkrone«. Selbst nennen sich die Mitglieder des Blauen Blond Tharoidoner – schmächtige, zwergenhafte Hominide, kaum größer als 1,45 Meter, bei denen es rein äußerlich kaum Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt. Goldenes, häufig gelocktes Haar, das die Kindergesichter wie ein Bild der Unschuld umrahmt, bildet einen ästhetischen Kontrast zum zarten Blau der Haut. Schon der Anblick erweckt bei vielen Wesen Anteilnahme und Barmherzigkeit, oder er löst Beschützerinstinkte aus.

Die Tharoidoner sind hochsensible Kommunikationsgenies, die neben dem Frendo-Prom nicht nur sehr viele Fremdvolksprachen beherrschen, sondern mit einer fast ans Paranormale grenzenden emphatischen Gabe die Eigenheiten anderer Völker intuitiv erfassen. Nur in den seltensten Fällen werden also jene Mißverständnisse provoziert, die auf Grund unterschiedlicher kultureller Hintergründe und Mentalitäten sonst eher die Regel sind.

Allerdings besitzen die Tharoidoner in ihrer recht einseitigen Konzentration auf das Schöngeistige eine fanatisch-künstlerische Seite. Das mag in Friedenszeiten akzeptabel sein, vielleicht sogar zur Völkerverständigung beitragen und den inneren Zusammenhalt der sehr unterschiedlichen Spezies stärken. Ziemlich fehl am Platz ist eine solche extrem pazifistische Einstellung, wie sie vor allem in der Führungsschicht der »Wahren Künstler« rings um den Prinzipal Zeiban Vit-Terous an den Tag gelegt wird, wenn es heißt, gnadenlosen Invasoren wie den janusköpfigen Mundänen zu begegnen.

Wäre die Mentalität der Tharoidoner rein kulturell begründet, müßte man sich fassungslos an den Kopf greifen. Leider ist die Angelegenheit nicht ganz so einfach: Im Kontakt mit sehr aggressiven »Gesprächspartnern« kommt es zu dem Effekt, daß die besonderen Fähigkeiten der Tharoidoner wie weggeblasen sind; sie verkrampfen, in schweren Fällen bis zur Bewegungsunfähigkeit oder dem Verlust der klaren Denkfähigkeit – dem »Totstell-Instinkt« im Tierreich vergleichbar.

Nicht zuletzt hieraus resultiert die trotz des 1000jährigen Krieges weit verbreitete »Augen zu«-Einstellung, bei der, um nicht völlig handlungsunfähig zu werden, die erschütternde Realität quasi ausgeblendet wird. Daß es in La-Pharoke auch deutlich pragmatischer veranlagte Vertreter dieses Volkes gibt, erweist sich für die SOL letztlich als Glücksfall.

In den fremden Freunden findet man Helfer, die ihren Einsatz allerdings mit einem verdammt hohen Preis bezahlen. Da hilft nicht einmal die überaus zynische Betrachtung, daß alle Personen, mit denen es die SOL in Segafrendo zu tun bekommt, »eigentlich« ohnehin ja schon seit 18 Millionen Jahren tot sind ...

Rainer Castor